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„Das Cannabinoid legt den Hauptschalter der Krebszelle um“
Interview mit Cristina Sánchez García von der Madrider Complutense Universität
„Extrakte der ganzen Cannabispflanze lieferten mit deutlichem Abstand bessere Ergebnisse gegen die Krebszellen als Tetrahydrocannabinol (THC) in Reinsubstanz“, sagt Cristina Sánchez García von der Madrider Complutense Universität. Sie ist eine der weltweit führenden Krebsforscherinnen, die seit Dekaden die krebshemmende Wirkung von Cannabis untersucht.
Mit Cannabinoiden könnte man auch die Dosierung von gängigen Krebsmedikamenten drastisch verringern, was die Lebensqualität der Patienten immens steigern würde. Und über die Anzahl der CB2-Rezeptoren wäre es möglich, die Gefährlichkeit einer Krebserkrankung bereits im Frühstadium abschätzen zu können, was einerseits vielen Patienten eine Chemo- oder Strahlentherapie ersparen würde, andererseits würden durch eine gezielte aggressivere Behandlung bei extrem-bösartigen Tumoren die Heilungs- und Überlebenschancen größer, ist die Molekularbiologin überzeugt.
grow! Wie haben die Pandemie und die Ausgangssperre Ihren Forschungsalltag beeinflusst?
Cristina Sánchez García: Wir arbeiten an der Universidad Complutense de Madrid (UCM), der größten öffentlichen Universität Spaniens. Als der Alarmzustand und die Ausgangssperren verhängt wurden, galt dieser auch für uns Forscher, Lehrende und Studenten. Einzig die Teams, die direkt am Sars-CoV2-Virus forschen, waren natürlich weiterhin in ihren Labors. Und bis jetzt sind wir nicht wieder zurück (Anm. zum Zeitpunkt des Interviews am 27. Mai 2020 war Madrid noch in der „Phase 1“ der Lock-Down-Lockerungen, die noch bis mindestens 7. Juni andauerte).
Wir hoffen, dass wir bald die Arbeit wieder aufnehmen können. Die Ausgangssperre hat über zwei Monate unsere komplette Forschung stillgelegt. Wir sind eine kleine Forschergruppe mit zwei Universitätsprofessoren. Zudem haben wir einen Labortechniker unter Vertrag, der sich um Versuchstiere und Experimente in ihrem Ablauf kümmert.
Die Studienabschlüsse müssen die Studenten nun alleine mit ihrem Praxisteil verteidigen, den sie vor der Pandemie machen konnten. Andere Experimente konnten nicht abgeschlossen werden. Für die Doktoranten ist es sehr hart, sie haben viel Zeit verloren von den maximal vier Jahren, die das Doktorat dauert. Sie sind vertraglich angestellt, und diese Verträge laufen aus. So stehen wir am Limit, auch ökonomisch.
grow! Wie sind Sie auf Cannabinoide, ihr Forschungsfeld, in dem Sie weltweit eine Referenz sind, gestoßen?
Cristina Sánchez García: Mir war von Anfang an klar, dass ich wissenschaftliche Grundlagenforschung betreiben will. Als ich im dritten Studienjahr der Biologie war, habe ich mich für ein Praktikum beworben, ich suchte nach Labors, die Studenten brauchten, und fand ein Forschungsinstitut. Das war um 1990 und es war zufälligerweise das einzige, das seinerzeit zu Cannabinoiden forschte. Ich bewarb mich mit zwei Kollegen und am Schluss konnten sie sich nicht entscheiden. Also stellten sie uns alle ein (lacht).
Meine Aufgaben waren sehr grundlegend und ich wurde darin bestärkt, dass ich in der wissenschaftlichen Forschung meine Bestimmung gefunden habe. Die Cannabinoide waren damals für mich aber nur ein Forschungsfeld. Mir war es ziemlich gleich, Hauptsache ich konnte forschen. Mir gefiel das Laborleben. Nach dem Abschluss des Magisterstudiums eröffnete sich mir die Möglichkeit, meine wissenschaftliche Karriere bei Manuel Guzman fortzusetzen. Er ist einer der herausragendsten Spezialisten in Sachen Energie-Zellstoffwechsel, dem Metabolismus. Von Seiten der Medizin wollte man die Wirkung von Cannabinoiden über eben diese Schiene erforschen. Ich war damals das Bindeglied zwischen der Forschung Guzmáns und der medizinischen Forschung am Spital, um die Mechanismen der Wirkungsweise der Cannabinoide medizinisch und eben auch explizit auf den Zellstoffwechsel zu eruieren. Das war mein erster Kontakt zu Guzmán, auf den schließlich meine Diplomarbeit folgte, die er, wie auch mein Doktorat, betreute. In seinem Labor verbrachte ich meine ersten Jahre als Forscherin, ehe ich für knapp vier Jahre in die USA ging, um schließlich wieder an das Institut zurückzukehren. Mit der Krebsforschung und der Wirkung von Cannabinoiden auf Krebszellen, hat sich mir jedoch eine völlig neue Welt eröffnet. Und ich entwickelte eine Leidenschaft für die Cannabispflanze, die weit über die wissenschaftliche Forschung und Arbeit hinausgeht. Ihre Bestandteile und die therapeutischen Möglichkeiten, die sie uns bietet, sind enorm.
grow! Ihr Spezialgebiet sind Cannabinoide und deren Wirkung auf unterschiedliche Arten des Brustkrebses. Am Institut wird auch zum extrem bösartigen Hirntumor Glioblastom geforscht (unter Guillermo Velasco), zu Hautkrebs und Leberkarzinomen. Wie weit sind Ihre Forschungen bis dato?
Cristina Sánchez García: Wir haben bisher seit 2003/04, das war just nach meiner Rückkehr aus den USA, die Cannabinoid-Wirkung in vitro belegen können, das heißt, auf gezüchteten Krebszellen in Petrischalen. Und auch in Versuchen mit Labormäusen. Dabei haben wir zahllose Experimente durchgeführt, die eines ganz klar beweisen: Cannabinoide verursachen eine anti-tumorale, krebshemmende Wirkung. Wir haben eine große Bandbreite von Settings im Tierversuch. Einige sind simpel, andere hochkomplex. Und das Ergebnis war immer dasselbe. Wir müssen nun den Sprung zu klinischen Studien zuwegebringen. Etwas, das sehr kostspielig ist und nur mit Unterstützung von finanzstarken Konzernen, eben in der Pharmaindustrie, umgesetzt werden kann. Solche Testreihen kosten leider mehrere Millionen Euro.
Was wir brauchen, sind Kliniken, die bereit sind, die wissenschaftlichen, vorklinischen Belege in der klinischen Praxis zu testen, die wir und Cannabinoid-Forschergruppen weltweit erbracht haben. Das ist aktuell auch eines unserer Anliegen, für das wir viel Zeit aufwenden. Im Normalfall wären dies Privatunternehmen, da Regierungen in diese Studien keine öffentlichen Gelder investieren. Für die Studien am Menschen braucht es Mittel und ein Cannabinoid-Präparat, das den Kriterien der klinischen Testreihen entspricht. Die krebshemmende Wirkung haben wir, wie gesagt, in vorklinischen Laborversuchen geklärt, aber wir stehen erst am Anfang. Und es gibt zahllose Fragen, die es zu klären gilt, wie z.B. welche Effekte andere Cannabinoide abseits von THC auf die Tumorzellen haben. Und inwieweit es Synergien der einzelnen Wirkstoffe der Pflanze gibt. Auch bezüglich der Terpene, und wie diese kombiniert die Wirkung steigern können. Aber auch wie Cannabinoide mit anderen Krebstherapien in Kombination funktionieren. Auf all diese Fragen und noch mehr, wollen wir Antworten liefern. Doch unser Hauptanliegen ist es, das, was die Grundlagenforschung bisher belegt hat, am Menschen zu testen.
grow! Haben Sie im Laborversuch auch die Kombination mit gängigen Krebsmedikamenten, wie etwa Temozolomid (Handelsname Temodal (R)) getestet, wie es auch Ihre Kollegen Velasco und Guzman geprüft haben?
Cristina Sánchez García: Auch wir haben Standard-Krebstherapien in Kombination mit Cannabinoiden bei unterschiedlichen Typen des Brustkrebses getestet. Die Studien in vitro auf Tumorzellen haben Synergien gezeigt, wenn man beide Wirkstoffe gemeinsam verabreicht. Um es in einfache Worte zu fassen, töteten sich die Krebszellen vermehrt. Die Behandlungen erwiesen sich als weitaus effizienter. Hier sind wir aber noch nicht beim Tierversuch angelangt. Wobei wir ebenso keinerlei negative Auswirkungen auf die Behandlung der Tumorzellen durch Cannabinoide erkennen konnten. Die Kombination verringert keine der therapeutischen Wirkungen. Wir werden die Laborversuche aber noch fein abstimmen und wiederholen. Für die Zukunft und die Krebspatienten würde dies auch etwas Wesentliches bedeuten: Und zwar könnte man mittels der Cannabinoide die Dosierung der Standard-Krebsmedikamente verringern. Die, wie Sie wissen, starke, unerwünschte Nebenwirkungen haben. Damit verbessern wir die Lebensqualität der Patienten, und die sollte an erster Stelle stehen.
grow! In einem Fachjournal-Beitrag von 2018 haben Sie gemeinsam mit Forschern aus Kalifornien eine der aktuell am meisten debattierten Fragen geklärt. Und zwar, inwieweit Vollspektrumextrakte der gesamten Cannabispflanze verglichen mit THC auf Krebszellen wirken.
Cristina Sánchez García: In diesem unlängst veröffentlichten Beitrag haben wir genau das untersucht, da wir lange Jahre an isolierten Cannabinoiden geforscht haben, prinzipiell an THC und CBD. Nicht weil wir dies als therapeutisch am wirksamsten erachteten, sondern es in unserer Forschergruppe darum geht, zu markieren, wie die Wirkstoffe auf Zellniveau funktionieren. Die erste Frage war, ob THC und CBD eine krebshemmende Wirkung haben, und als das geklärt war, machten wir uns daran zu eruieren, mit welchen molekularbiologischen Mechanismen diese abläuft. Die Fragestellung ist nicht zu klären, wenn man mit Hunderten Inhaltsstoffen der Cannabispflanze in Ganzpflanzenextrakten einen Laborversuch startet.
Diese verwenden auch Krebspatienten, und wenn man einen antitumoralen Effekt erzielt, weiß man immer noch nicht, welche Kombination der Inhaltsstoffe für diesen verantwortlich ist. Oder welcher einzelne von ihnen. Daher haben wir und auch andere Forscherteams stets mit purem THC und CBD oder Verhältnismischungen dieser beiden Moleküle gearbeitet. Dabei sind wir uns bewusst, dass die Reinsubstanzen nicht die präferierte Wahl der Patienten sind. THC im Reinzustand oder eben die synthetischen Präparate, Marinol bzw. Cesamet, die schon viele Jahre durch die US-amerikanische Medikamentenagentur genehmigt ist. Doch für beide gibt es keinen Schwarzmarkt, denn diese Präparate tun den Patienten keineswegs gut. Die psychoaktive Wirkung, die reines THC auslöst, schickt einen auf eine Reise, die für viele keineswegs angenehm ist. Uns ist klar, dass Patienten ganzpflanzliche Extrakte zu sich nehmen wollen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese viel komplexer. Und auch pharmakologisch haben sie einen weitaus effizienteren Effekt. Warum das so ist, wissen wir bis jetzt noch nicht. Was wir dank der komparativen Studie aber belegen konnten, ist, dass im direkten Vergleich zwischen Reinsubstanz und ganzpflanzlichem Extrakt, der zweite um vieles besser in seiner krebshemmenden Wirkung abschneidet. Dieser bestand aus THC, CBD, einigen anderen Cannabinoiden und einer beachtlichen Menge an Terpenen. Diese Tests haben wir in Zellkulturen von Brustkrebszellen, aber auch im Tierversuch durchgeführt. Und dabei haben wir unterschiedliche Arten von Brustkrebszellen untersucht, die untereinander sehr unterschiedlich sind. Extrakte der ganzen Cannabispflanze lieferten dabei mit deutlichem Abstand bessere Ergebnisse gegen die Krebszellen als THC als Reinsubstanz.
grow! Wie würden Sie den Lesern die Wirkungsweise von Cannabinoiden, darunter THC, auf Krebszellen auf molekularbiologischer Ebene erklären? Wenn ich es richtig verstehe, dockt das Cannabinoid auf der Rezeptorenebene an, und wie Sie beschrieben haben, löst in weiterer Folge ein Protein, das Jun-D, eine Transkriptionskette in der Zelle aus, die zur Apoptose, dem induzierten Zelltod führt. Es geht um zweierlei, Wachstum und Ausbreitung der Krebszellen zu stoppen, und diese auch zu beseitigen.
Cristina Sánchez García: Sie haben das eigentlich ziemlich gut zusammengefasst und dabei auch die Kernbotschaft getroffen. Der Mechanismus an sich, wie Cannabinoide den Zelltod bewirken, ist hochkomplex, und wir kennen bislang nur einen sehr kleinen Teil davon. Was klar ist: Bei den allermeisten Fällen geht der Effekt aus der Union des Cannabinoid-Moleküls mit dem Rezeptor an der Zelle einher. Diese sind die bekannten CB1- und CB2-Rezeptoren. Bei Brustkrebs sehen wir, dass in erster Linie die CB2-Rezeptoren verantwortlich sind. Mit der Verschmelzung werden unglaublich viele Signale ausgesendet, allesamt antitumorale, die miteinander konvergieren und im Protein Akt (Anm. auch PKB, Proteinkinase B) der Hauptschalter, wenn man so will, der das Überleben der Zelle regelt. Das Cannabinoid schaltet in gewisser Weise das Protein Akt aus, was das Absterben einzuleiten vermag. Alle Signale der Zelle, die das Überleben sichern, werden ausgeschaltet und die Signale des Zelltotes kommuniziert. In Folge verschwindet die Krebszelle aus dem Organismus. Von diesem komplizierten Vorgang wissen wir von der Fülle an Signalen in der Zelle, all diese Pfeile, die wir uns unseren Diagrammen stets einzeichnen. Sie gehen auf das Akt-Protein zurück und das Cannabinoid legt den Hauptschalter der Krebszelle um. Jun-D ist eines der Proteine, die im Prozess involviert sind. Ich bin jetzt fast 50 Jahre alt und habe mindestens noch einmal so viel vor mir, um dem gesamten Mechanismus, welche Proteine exakt für den Zelltod der Krebszellen verantwortlich sind, so nahe wie möglich zu kommen …
grow! Hoffentlich dauert es nicht Generationen, bis Patienten endlich ein Cannabis-Medikament bekommen, das ihnen hilft, die Krebserkrankung zu überwinden ...
Cristina Sánchez García: Die Komplexität auf Zellebene und deren Erforschung bieten ein Studienfeld, dass noch viele Fragen zu klären hat, genug für Generationen an Forschern. Aber all das, was wir bisher wissen, sollte ausreichen, um schon bald klinische Studien am Menschen zu starten. Ich hoffe, dass Medikamente erhältlich sein werden, bevor ich in Rente gehe. Oder besser noch davor.
grow! Vergangenen Dezember entdeckten italienische Forscher bisher unbekannte Cannabinoide, Varianten von THC und CBD, die um ein Vielfaches potenter sind als die bekannten. Hat das eine Bedeutung für Ihre Forschungen?
Cristina Sánchez García: Diese konkrete Studie, von der Sie sprechen, ist mir nicht bekannt. Aber es ist bekannt, dass es weit stärkere Cannabinoide gibt als THC beispielsweise. Und synthetische Cannabinoide, die viel potenter sind als Natürliche. 10- bis 1000-fach stärker. Ich glaube nicht, dass wir, wenn es um die therapeutische Anwendung von Cannabinoiden geht, stärkere Wirkstoffe brauchen. Ich glaube vielmehr, dass wir eruieren müssen, welche Wirkstoffe und -kombinationen uns die Effekte bringen, die wir gezielt suchen. Dabei ist die Stärke des Cannabinoides nicht zentral. In den Studien, die die Kraft untersuchen, mit der sich Cannabinoide an die Rezeptoren klammern, belegen nicht zwingendermaßen, dass eine therapeutische Wirkung dadurch stärker, rascher oder effizienter sein wird. Es kann durchaus sein, dass die Wirkung schlechter ausfällt als erhofft. Kurzum: Stärkere Cannabinoide sind nicht gleichbedeutend mit besserer Anwendbarkeit im therapeutischen Bereich.
grow! Das sogenannte Endocannabinoidsystem, das „körpereigene Cannabinoid-System“, steht zuletzt immer mehr im Zentrum der Forschung. Inwieweit konzentrieren Sie sich auf dieses im Versuchssetting?
Cristina Sánchez García: In der Krebsforschung ist es zentral, das System der Krebszelle an sich zu erkennen, und wir können dieses instrumentalisieren. Die pharmakologische Reaktion erlaubt es den Cannabinoiden, diese auszuschalten. Auch das Immunsystem hat endocannabinoide Systeme, selbst die Phytoplasmen, die bei Krebsbehandlungen zentral sind. Man muss im Kampf gegen den Krebs diese Systematik und ihre Prozesse kennen. Es gibt auch holistische Zugänge in der Onkologie, die Krebserkrankungen in all ihren Facetten untersuchen. Was für uns interessant ist, ist die Möglichkeit, dieses körpereigene System für die Diagnostik zu verwenden. Also nicht einzig therapeutisch, sondern es wäre uns möglich, Prognosen zu erstellen, wie virulent der Brustkrebs, wie gefährlich und aggressiv dieser für die Patienten ist. Wir haben belegt, dass in Brustkrebsfällen die Zahl der CB2-Rezeptoren im Brustgewebe um ein Vielfaches höher ist als bei gesunden Organismen und Brustgewebe. In gesundem Gewebe sind sie mit den uns möglichen Techniken kaum nachzuweisen. Sind Brustkrebszellen präsent, steigen die CB-2-Rezeptoren fast explosiv an. Damit nicht genug, wir fanden auch viel mehr CB2-Rezeptoren bei aggressiven Brustkrebsarten als bei gutartigen oder besser behandelbaren. Damit können wir im Frühstadium oder der Früherkennung bereits, dank der besseren Datenlage, die Behandlung der Patienten optimieren und bei aggressiven Tumoren eine aggressivere Therapie sofort beginnen. Aktuell ist es meist so, dass alle Brustkrebspatientinnen eine radikale medizinische Behandlung durchlaufen müssen wie u.a. Chemotherapie und Strahlentherapie.
grow! Wäre das ein immens praktisches „Werkzeug“, wenn man die hohe Mortalitätsrate bei bösartigen Brustkrebsarten betrachtet? Auch zugleich bei all den heftigen Nebenwirkungen auf die Lebensqualität der Patientinnen?
Cristina Sánchez García: Das generelle Bild in der Öffentlichkeit, was die Behandlung von Brustkrebsarten betrifft, ist, wie ich glaube, nicht korrekt. Aber auch in der medizinischen Bekämpfung der Krankheit auch bei anderen Krebsarten. Es geht immer darum, noch effizientere Mittel einzusetzen. Dabei vergisst man die Situation und die Lebensqualität der Patienten, die noch mehr Einbußen zu verkraften haben, als die Erkrankung an sich schon bedeutet. Viele Krebspatienten bekommen Chemotherapien, die ihnen schlussendlich nicht nützen werden. Da sie eben nicht aggressive Krebsarten haben, die Mediziner aber nicht in der Lage sind, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, bekommen sie das volle Programm. Patienten, bei denen, sagen wir, ein chirurgischer Eingriff ausreichen würde, wie die Entfernung der Krebsgeschwüre. Und keine Folgebehandlung, pharmazeutisch oder mittels Strahlung. Die allermeisten Chemotherapien sind hochtoxisch. Was wir brauchen, sind Werkzeuge, die uns früh in der Krebserkrankung erlauben zu wissen, wie aggressiv dieser ist. Selbst wenn dieser im Anfangsstadium auch noch so klein ist, muss die Therapie dementsprechend aggressiv begonnen und durchgeführt werden. Das Endocannabinoidsystem kann uns diese Information liefern.
grow! Wie sehen Sie die Chance, dass in Spanien eine Regulierung und Legalisierung umgesetzt wird?
Cristina Sánchez García: Ich bin Ihrer Meinung, am Anfang war mit dem Regierungswechsel die Hoffnung groß, dass endlich etwas in diese Richtung unternommen wird und sich auch die Situation für Patienten, die Medizinalcannabis brauchen, endlich lösen wird. Aber ich bin auch skeptisch. Ich glaube nicht, dass die Regulierung von Cannabis durchgesetzt wird. Es blieb bei wohlwollenden Lippenbekenntnissen bei den Verantwortlichen in der Regierung und auch im Parlament, als wir unsere Forderungen präsentierten. Von allen politischen Parteien, hat einzig „Unidas Podemos“ die Zügel in die Hand genommen. Sie hat die Agenda einer Regulierung, medizinische wie für den ludischen Bereich, aufgegriffen und setzt sich dafür ein. Im medizinischen Bereich war auch die (Anm. rechts-rechtsliberale) „Ciudadanos“-Partei einer Regulierung zugeneigt. Wir sind mittlerweile fast überzeugt, dass es reine Zeitverschwendung ist. Denn die größten Widerstände bereitet uns die spanische Medikamentenagentur, die dem Gesundheitsministerium unterstellt ist, das der sozialdemokratische PSOE leitet. Die Entscheidung dieser Behörde ist essenziell, und deren Argument gegen eine Regulierung ist schlichtweg die, dass es bereits ein einziges Cannabis-Medikament am Markt gibt.
Damit wären die Bedürfnisse der Patienten gedeckt, sagen sie. Doch Sativex ist absolut nicht ausreichend. Es ist extrem teuer. Und die Krankenkasse in Spanien deckt die Kosten nur bei sehr wenigen, sehr konkreten Krankheitsbildern ab.
Hinzu kommt, dass zugleich Anbaulizenzen vergeben werden, die einzig und alleine dem Export dienen. Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass man sagt, es sei nicht nachgewiesen, dass Cannabis eine medizinische Wirkung hat, wie es vom Gesundheitsministerium kommuniziert wurde, und zugleich Cannabis anbaut, dass für den internationalen Markt produziert wird. Damit bekommen Patienten im Ausland, was sie brauchen, nicht aber spanische Cannabispatienten. Damit beweist die Regierung auch eine immense Kurzsichtigkeit und verspielt eine große Chance. Ganz zu schweigen davon, dass man Patientenrechte bricht und deren Leiden verschlimmert.
grow! Kann die Sars-CoV2-Pandemie ein Umdenken in Sachen Cannabis beschleunigen?
Cristina Sánchez García: Was Regierungen bewegt, sind vielmehr ökonomische Interessen. Wenn man hier die Scheuklappen abnimmt, wäre Cannabis eine Quelle, Reichtum zu erwirtschaften und Arbeitsplätze zu schaffen, die nun in der Pandemie-Krise millionenfach verloren gegangen sind. Und nicht zuletzt auch Steuereinnahmen zu lukrieren, die angesichts der Wirtschaftskrise dringend notwendig sind. Ich habe nichts gegen die Vergabe von Anbaulizenzen, das ist wichtig. Es ist nur problematisch, wenn man zugleich der Bevölkerung das Recht vorenthält, diese medizinisch wirksame Pflanze zu nutzen.
grow! Kann Cannabis nach der Pandemie einen neuen Stellenwert haben?
Cristina Sánchez García:Was die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf die Gesellschaft betrifft, bin ich pessimistisch. Ich glaube nicht, dass es Veränderungen zum Besseren geben wird. Und auch nicht jetzt ganz spezifisch auf Cannabis hin betrachtet. Bisher haben wir wohl alle eine traumatisierende Phase durchlebt. Aber ich fürchte, wir werden nicht in eine „neue Normalität“ gelangen, sondern vielmehr wieder in die „normale Normalität“.
Wir Menschen werden nichts aus der Pandemie und der Art und Weise, wie wir diese managen, lernen. In Spanien, und ich gehe davon aus, dass das in vielen anderen Staaten gleich oder ähnlich war, ist der Zugang zu Cannabis extrem schwer geworden – und für Cannabis-Patienten noch um vieles mehr. Dabei sprechen wir von schwer und terminal (tödlich) erkrankten Menschen. Viele von ihnen leiden an schweren chronischen Schmerzen, andere an pharmakologisch-resistenter Epilepsie, Patienten, die auf keine andere Medizin außer Cannabis ansprechen. Das Thema ist nicht auf der politischen Agenda, auch wenn immer mehr Staaten eine Regulierung durchsetzen.
grow! Nochmals zur Sars-CoV2-Pandemie. Es gab eine Fülle an „Fake-News“ zu Cannabis und vor allem zu CBD und dessen angeblicher Wirkung gegen das Virus. Was sagen Sie als Wissenschaftlerin, die Cannabinoide genau kennt?
Cristina Sánchez García: Eine ganze Bandbreite an gefährlichen Unwahrheiten, regelrechte Ungeheuerlichkeiten wurden verbreitet. Nach dem Motto, mit CBD alleine brauche man sich keine Sorgen zu machen, man wäre vor einer Ansteckung geschützt, es immunisiere und vieles mehr. CBD wäre die Lösung für die Viruspandemie und vieles mehr. Das ist absoluter Irrsinn, und der ist extrem gefährlich. Im Zusammenhang mit Cannabis passiert das häufig. Und in diesem Fall haben wir auch vom spanischen Observatorium für Medizinisches Cannabis (Anm. OEDCM) ein Kommuniqué veröffentlicht, um diese Falschbehauptungen zu entkräften. Es gibt keinen einzigen Beweis für das, was an Unsinn verbreitet wurde.
Seit ich mit Cannabinoiden arbeite, ist es eines meiner Hauptanliegen, dass Patienten sich direkt an Experten wenden. Facebook und Co. sind praktisch, um Selbsthilfegruppen zu starten und sich auszutauschen, aber wenn es um die medizinische Einschätzung geht, muss immer ein Experte herangezogen werden. Klar, wenn jemand von seiner Krebsdiagnose erfährt, steht er unter Schock, und wird im Internet suchen, was für alternative Behandlungsmethoden es gibt. Damit tut man sich und seinen Nächsten nichts Gutes. Auch in Bezug zu anderen Krankheitsbildern stehen dort Dinge über Cannabis, die absolut keinerlei wissenschaftliche Grundlage haben. Und wenn man ein klein wenig an der Oberfläche zu kratzen beginnt und weiterrecherchiert, wird man in den allermeisten Fällen auf dahinterliegende, ökonomisch-motivierte Gründe und Unternehmen stoßen. Patienten und ihre Angehörigen sprecht mit Wissenschaftlern, Medizinern!
Denn all jene, die Patienten und ihr Leid ausnutzen, sie tun der „Cannabis-Bewegung“ überhaupt nichts Gutes. Ganz im Gegenteil, sie unterminieren deren Weg zu einer Regulierung. Ebenso wie all jene, die Cannabis vergöttern und es als Allheilmittel preisen. Das hilft niemandem. Damit spielt man auch den Legalisierungsgegnern in die Hände, die Cannabis im Kampf gegen Drogen als Feind sehen. Dann können sie sagen, es gibt keinen Grund, keine Beweise, dass Cannabis medizinischen Nutzen hat. Beide Extrempositionen in dieser Debatte bestärken einander gegenseitig.
Klar ist, Cannabis hat einen vielseitigen medizinischen Nutzen, aber man muss diesen erkennen und gezielt nutzen. Wenn jemand Krebs hat: Cannabis hat eine antitumorale Wirkung. Der Patient soll sich dann mit Forschern wie uns in Kontakt setzen, wir werden ihm erklären, wo die Wirkung liegt. Selbes gilt für Eltern von Kindern mit pharmako-resistenten Formen der Epilepsie. Sucht vertrauenswürdige Quellen. Für alle in Europa ist der IACM eine empfehlenswerte Anlaufstelle. Sie sind stark vernetzt und verbinden einen mit Experten in vielen Staaten.
- Jan Marot -
Zur Person:
- Cristina Sánchez García (* 21. Oktober 1971 in Madrid) ist eine der weltweit führenden Forscherinnen im Bereich der Cannabinoide und ihrer Wirkung gegen Krebszellen. Als Universitätsprofessorin an der Madrider Universidad Complutense (UCM) leitet sie seit 2003 die Forschungsgruppe zu Brustkrebsarten und konnte in Laborversuchen (auf Zellniveau und im Tierversuch) die Wirkung von THC und ganzpflanzlichen Extrakten belegen, die zum Zelltod der Krebszellen führen. Ihre wissenschaftliche Karriere begann Sánchez nach dem Abschluss ihres Biologiestudiums an der UCM 1994. Im Labor der Mediziner Dr. Ramos und Dr. Fernández-Ruiz hatte sie ihren ersten Kontakt zur Erforschung von Cannabinoiden. Bei Manuel Guzmán an der UCM erforschte sie die Wirkungsweise von Cannabinoiden auf den Fettsäuren- und Kohlenhydratstoffwechsel von Zellen und daraufhin auch von Krebszellen. Guzmán betreute Sánchez bei ihrer Diplomarbeit und dem Doktorat, dass sie „cum laude“ abschloss. Zwischen 2000 und 2003 war Sánchez an der University of California Irvine, wo sie ihr Postdoc-Studium zu bioaktiven Fettsäuren abschloss und über die Auslösung von Schmerzen forschte. 2004 kehrte sie an die UCM und zur Cannabinoid-Forschungsgruppe von Guzmán zurück. Seit mittlerweile 16 Jahren erforscht sie die Bedeutung von Cannabinoid-Rezeptoren und deren möglicher antitumoraler Wirkung bei Brustkrebs und anderen Krebsarten. Sánchez ist Mitbegründerin und Leiterin des Spanischen Instituts für Medizinisches Cannabis (Observatorio Español de Cannabis Medicinal, kurz OECDM) und Vizegeneralsekretärin der Spanischen Gesellschaft für Cannabinoid-Forschung. An der UCM ist sie Vizedekanin der Fakultät für Biologie. Sie ist, wie sie sagt, eine „fanatische Musikliebhaberin“.
Webtipps:
www.cannabinoidsignalling.com
www.oedcm.com
Dieser Artikel stammt aus der grow! Ausgabe 04-2020. Wir veröffentlichen hier aus jeder neuen Ausgabe unseres Print-Magazins vier vollständige Artikel - erst als Leseproben, acht Wochen später als vollständige Texte, gratis für alle. Falls du diese Ausgabe nachbestellen möchtest, schau doch mal in unseren Shop.
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