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Multiple Sklerose: Krankheit mit 1000 Gesichtern

30.04.2018 12:05
von grow! Magazin
(Kommentare: 0)
deutschland
Multiple Sklerose und Cannabis - Interview mit einem Patienten 1

In Deutschland leiden etwa 130.000 Menschen an Multipler Sklerose (MS). Weil diese Krankheitsform so viele unterschiedliche Symptome zeigt, wird sie auch „die Krankheit mit den tausend Gesichtern“ genannt. Es ist die häufigste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, bis heute leider noch unheilbar und nur begrenzt zu behandeln. MS bricht meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr aus und betrifft doppelt so viele Frauen wie Männer. Bei etwa der Hälfte aller Patienten mit schubförmiger MS wird sie durchschnittlich nach elf Jahren chronisch. Über die eigentlichen Ursachen und Verläufe dieser Krankheit wissen die Wissenschaftler nur wenig. Im Juli 2011 wurde das erste zugelassene Cannabis-Medikament gegen MS (Sativex) vom englischen Unternehmen GW Pharmaceuticals auf den Markt gebracht. Sativex ist im Wesentlichen eine Cannabisöl-Tinktur und enthält THC und CBD in nahezu gleichen Mengen. Es bewirkt eine verbesserte Regulierung von Nervenimpulsen, was wiederum zu einer Verringerung der Spastik führt, und wirkt gleichzeitig entzündungshemmend. Wie cannabishaltige Medikamente bei einem MS-Patienten wirken, wollten wir aus erster Hand erfahren und haben uns aus diesem Grund mit David Schulz aus Duisburg getroffen. David ist 38 Jahre alt, war von Beruf Maler und Lackierer und erhielt als junger Erwachsener die Diagnose MS. Mittlerweile kann er nur noch sehr schwer laufen, ist meist mit einer Gehhilfe oder seinem E-Skooter (Eletro-Rollstuhl) unterwegs. Aber lest selbst. (Das Interview stammt noch aus der Zeit vor dem "Cannabis-Gesetz" - Anm. d. Red.)

grow! Hallo, David. Wann hast du bemerkt, dass etwas nicht stimmt mit deinem Körper?

David: Mit zwanzig Jahren ungefähr. Ich konnte von einen auf den anderen Tag nicht mehr laufen. Morgens, als ich aufstehen wollte, haben meine Beine einfach nicht mehr mitgespielt. Sie waren verkrampft und starr wie Holz.

grow! Echt? Von einen auf den anderen Tag?

David: Ja, so war das. Vorher habe ich nie Probleme gehabt, bis zu diesem Tag. Ich bin ins Krankenhaus, und die Ärzte meinten erst, ich hätte einen Schlaganfall gehabt. Dann, nach vielen Untersuchungen sagte der Arzt: „Sie hatten keinen Schlaganfall, sie haben Multiple Sklerose“. Ich wusste nicht, warum er das sagte.

grow! Wusstest du bist dato nicht, was MS ist?

David: Nein,woher auch. Ich war immer gesund, Krankheiten haben mich nicht interessiert. Dann habe ich angefangen, Bücher darüber zu lesen, aber was dieses Krankheitsbild für einen Menschen tatsächlich bedeutet, stand da nicht drin. Das erfahre ich aber jetzt am eigenen Leib.

grow! Was hast du beruflich gemacht?

David: Ich war Maler und Lackierer. Anfangs Vorarbeiter und später habe ich mich selbständig gemacht. Im Nachhinein war das aber keine so gute Idee.

grow! Warum?

David: Weil ich vergessen habe, in die Rentenkasse einzuzahlen, und deswegen bekomme ich jetzt auch keine Rente, sondern Sozialhilfe, auch Hartz IV genannt.

grow! Das ist hart. Wie lange konntest du überhaupt noch arbeiten?

David: Bis ich ungefähr dreißig war, dann ging es einfach nicht mehr und ich bin in die Insolvenz gegangen. Vorher, zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr bekam ich nur ab und zu mal einen Schub, kein Vergleich zu heute. Ich lebte damals noch mit meiner Verlobten zusammen und hätte niemals gedacht, dass mich diese Krankheit so im Griff hat. Zwischen den Schüben ging es mir richtig gut, ich hoffte, dass die MS bei mir nicht so stark ausbrechen würde.

grow! Wie können wir uns einen solchen Schub vorstellen?

David: Schübe sind bei jedem MS-Patienten anders und auch jedesmal leicht unterschiedlich. Mal wache ich morgens auf und kann meine Beine nicht spüren, sie sind verkrampft und kribbeln ganz eigenartig. Hinzu kommen noch Kopfschmerzen oder Benommenheit. Ein anderesmal habe ich die Harnblase nicht unter Kontrolle. Meine Hände zittern und krampfen, genauso auch meine Beine. Ein Schub kann 24 Stunden bis zu mehrere Wochen anhalten, leider. MS ist eine Entzündung im Gehirn oder Rückenmark, durch die Entzündung wird die Ummantelung der Nerven (Myelinscheide) zerstört. Die Nerven liegen im wahrsten Sinne des Wortes blank. So blank, dass meine Ex es nicht mehr mit mir ausgehalten hat. Ich wurde oftmals sehr aggressiv. Eigentlich bin ich ein herzensguter Mensch, lache viel und mag es nicht, alleine zu leben. Aber diese Krankheit lässt mich oft verzweifeln. Wenn mir etwas nicht gelang, wurde ich aggressiv. Wurde ich missverstanden, reagierte ich ebenfalls aggressiv. Auch die immer größeren Geldsorgen machten mich wütend. Am Ende stritten wir uns nur noch und haben uns deswegen dann auch getrennt. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich das auch getan (David lächelt leicht verlegen).

grow! Hattest du nie Probleme in der Kindheit oder frühen Jugend, wo du im Nachhinein denkst, das konnte schon ein Anfang sein?

David: Mit Sieben hatte ich mal für ungefähr zwei Wochen eine Gesichtslähmung. Ich kam ins Krankenhaus, aber die schickten mich wieder zum Zahnarzt, weil sie meinten, dass es ein Nerv im Kiefer gewesen wäre. Nach zwei Wochen ging es auch wieder von alleine weg, so wie es gekommen war. Heute bin ich mir fast sicher, dass es einer der ersten Schübe war. Ich bin früher viel Skateboard und BMX-Rad gefahren, über Rampen gesprungen, habe die krassesten Sachen gemacht. Zuhause war ich nur zum Schlafen, ansonsten ständig auf Achse. Meine damaligen Kumpels würden mich heute nicht wiedererkennen, weil ich dreißig Kilo abgenommen habe. Echt, ich fühlte mich wie der Terminator.

grow! Was hast du bisher schon alles an Medikamenten bekommen?

David: Oh, viele. Cortison, Cipramil, Seroquel, Simavastin, Spasmex, Zolpidem, Rivotril, Ibuprofen und im letztem Jahr auch eine Chemo. Es sind bestimmt noch viele andere Medikamente gewesen, die fallen mir aber im Moment nicht ein. Sehr oft waren die Nebenwirkungen aber stärker als die eigentliche Wirkung selbst. Das Problem ist auch, dass ich oft nicht genau sagen kann, von welchem Medikament die Nebenwirkungen gerade sind, weil ich immer so viele gleichzeitig einnehmen muss. Kopfschmerzen, Depressionen, Panikattacken, Magenprobleme, Gewichtsverlust, Kreislauf und Konzentrationsprobleme sind nur ein paar, die mir so auf Anhieb einfallen.

grow! Wie hast du erfahren, dass Cannabis bei MS helfen kann?

David: Das habe ich im Augusta Krankenhaus in Düsseldorf erfahren. Die hatten schon gute Erfahrungen mit Sativex bei MS-Patienten gemacht. Nachdem sie merkten, dass die anderen Medikamente bei mir nicht so wirkten, wie erhofft oder dass sie zu viele Nebenwirkungen hatten, gaben sie mir auch Sativex. Das half mir anfangs sehr gut, und ich nahm es für weitere 18 Monate. Dann aber bekam ich nach der Einnahme ständig Kopfschmerzen. Daraufhin, wieder in derselben Klinik, sollte ich stattdessen Dronabinol ausprobieren. Das vertrug ich sehr gut, besser als alles andere zuvor.

grow! Super. Wieviel Milligramm Dronabinol bekamst du am Tag?

David: Das weiß ich leider nicht. Ich vergesse sehr viel in letzter Zeit. Aber zurück zum Thema. Im Krankenhaus bekam ich Dronabinol nach Bedarf, draußen dann, wollte meine Neurologin mir nur zwei Kapseln am Tag verschreiben. Was zu wenig war, ich brauchte mindestens das doppelte. Aber das Thema hatte sich dann schnell erledigt, weil die Krankenkasse sich weigert, die Kosten zu übernehmen. Ich soll das privat bezahlen. Wovon denn? Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Da finden die Ärzte endlich ein Medikament, was mir wirklich gut hilft, und die Krankenkasse sagt „nein, das bezahlen wir nicht“? Ich weiß, ihr habt schon oft in der grow! erklärt warum das so ist, aber irgendwie sagt mir mein normaler Menschenverstand, dass da etwas nicht stimmt in unserem Gesundheitssystem. Meine Neurologin hat mir dann auch kein Rezept mehr ausstellen wollen.

grow! War sie denn ansonsten gegenüber dem Thema Cannabis als Medizin offen?

David: Nee, leider nicht. Ich hatte mich ständig mit ihr in den Haaren. Seitdem sie weiß, dass ich mich mit Cannabis selbst therapiere, ist sie mir gegenüber sehr kalt geworden. Aber egal, ich hab ja dank eurer Hilfe einen Arzt gefunden, der sich mit der Thematik auskennt und mir glaubt, wenn ich ihm sage, dass mir ein Joint medizinisch noch am besten hilft. Ich bin seit letzten Oktober bei Dr. Franjo Grotenhermen in Behandlung. Den Antrag für eine Selbsttherapie mit Cannabisblüten aus der Apotheke haben wir schon im November beim BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) eingereicht. Bisher habe ich aber noch keine Nachricht von denen. Ich hoffe das bedeutet nichts Schlimmes.

Multiple Sklerose und Cannabis - Interview mit einem Patienten 2

grow! Nein, mach dir keine Sorgen, David. Im Moment haben sehr viele Patienten einen Antrag gestellt, sodass die Wartezeit jetzt bis zu zwölf Wochen betragen kann. Das wird schon.

David: Okay, dann heißt es eben, noch etwas Geduld zu haben.

grow! Wie viel Cannabis benötigst du am Tag?

David: Kommt immer darauf an, was ich vorhabe. Wenn ich rausgehe und den Tag nicht zuhause verbringe, rauche ich bis zu zehn Joints am Tag, daheim im Durchschnitt sechs. Meine Joints muss mein Bruder, der zwei Jahre jünger ist, mir jeden Tag drehen. Aus einem Gramm dreht er vier Joints. Dafür kommt er extra jeden Tag nach der Arbeit vorbei, was natürlich nervt. Aber was soll ich machen. Ich hab's schon mit einer Bong versucht, aber das klappt nicht immer gut. Oft kriege ich nicht mal das Köpfchen auf die Bong gesteckt.

grow! Hast du im Alltag außer deinem Bruder weitere Hilfe?

David: Ja klar, alleine wäre ich aufgeschmissen. Dreimal am Tag kommt meine Pflegerin, die ich schon seit zwei Jahren kenne, eine tolle Frau. Sie hilft mir, wo sie kann. Kochen, die Wohnung sauber halten, mich waschen und sie hat immer ein offenes Ohr für mich. Und bestimmt noch tausend andere Dinge, die mir gerade nicht einfallen. Der Pflegedienst ist aus Duisburg, dem ich jedem Betroffenen empfehlen würde, nur wollen die nicht im Interview genannt werden. Ach, fast hätte ich meine zwei Wellensitiche vergessen. Die sorgen mit ihrem Gezwitscher für innere Ruhe.

grow! Kannst du unseren Lesern beschreiben, wie Cannabis dir hilft?

David: Ohne Cannabis sind meine Hände immer verkrampft, am schlimmsten morgens, und die Ataxien sind extrem stark und lang anhaltend. Meine Beine sind steif, und ich falle über jede Kleinigkeit. Trotz Rollator kann ich nur schwer laufen, sogar das Denken fällt mir schwer. Hinzu kommen die täglichen Depressionen und die daraus entstehenden Aggressionen. Wie ihr selbst sehen konntet, war ich vorhin noch sehr wackelig und zitterig unterwegs. Jetzt, nach meinem ersten Joint heute, sind meine Bewegungen viel geschmeidiger und die Ataxien fast weg. Die Schmerzen in der Lendenwirbelsäule und in den Gelenken werden erträglich. Schon nach wenigen Zügen an einem Joint verspüre ich eine Lockerung der Muskulatur im ganzen Körper. Ich laufe sicherer und kann auch mal eine Tasse halten, ohne den Inhalt zu verschütten. Ich fühle mich dann, wie geölt, auch im Kopf (lacht laut). Ist aber echt so, ich kann dann wieder flüssiger denken und es wirkt auch positiv auf meine Psyche. Ich werde kontaktfreudiger, verstecke mich nicht mehr den ganzen Tag in meiner Wohnung, sondern gehe raus. Auch meine Blase bereitet mir weniger Probleme beim Wasserlassen. Die Lebensqualität nimmt deutlich zu. Wenn ich Cannabis habe, rauche ich alle paar Stunden einen halben Joint mit ungefähr 0,3 Gramm. Die Tagesdosis zurzeit beträgt maximal anderthalb Gramm.

grow! Konntest du schon andere Medikamente runterdosieren oder gar absetzen, seit du Cannabis nimmst?

David: Nein, das wird wohl erst möglich sein, wenn ich jeden Tag mein Cannabis habe. Zurzeit kann ich mir ein würdiges Leben nur für zehn Tage im Monat leisten, für mehr reicht das Geld nicht.

grow! Hattest du wegen Cannabis schon Probleme mit der Polizei?

David: Oh ja. Vor 18 Monaten ungefähr. Ich wurde bei einer Verkehrskontrolle angehalten, zu der Zeit bekam ich noch Sativex verschrieben. Wegen der Kopfschmerzen als Nebenwirkung nahm ich aber lieber Cannabis, wenn vorhanden, und an diesem Tag war das so. Im Handschuhfach lag ein fertig gedrehter Joint. Ich habe denen zwar erklärt, dass ich Sativex verschrieben bekomme und das der Joint die selbe Wirkung erzielt. Das interessierte die aber nicht, und sie haben mir den Führerschein entzogen.

grow! Shit. Bist du dagegen angegangen?

David: Nein. Dafür fehlte mir die Kraft, das Wissen und das Geld.

grow! David, möchtest du unseren Lesern noch etwas mitteilen?

David: Ja, wenn mich jemand hier im Interview erkennt, würde ich mich freuen, wenn der- oder diejenige sich meldet. Bei meinem letzten Umzug habe ich leider alle Adressen und Telefonnummern verloren. Außerdem suche ich eine Freundin, das Alter ist Nebensache. Hauptsache nett, kann auch Fehler haben. Ich habe ja auch Fehler und Handicaps. Vielleicht liest dieses Interview ja eine nette Frau, die sich genau so alleine fühlt wie ich und möchte mir mal eine Mail schreiben (freeadonis7 //at // gmail.com). Ich würde mich total freuen.

grow! David, danke für das Interview und den Einblick in ein Leben mit MS.

David: Gerne. Ich möchte mich aber auch bei euch und Dr. Franjo Grotenhermen bedanken, dafür, dass ihr immer ein offenes Ohr für Patienten habt. Macht bitte weiter so.

Tilo Clemeur

Dieser Artikel stammt aus der grow! Ausgabe 2-2016. Wir veröffentlichen hier aus jeder neuen Ausgabe unseres Print-Magazins vier vollständige Artikel - erst als Leseproben, acht Wochen später als vollständige Texte, gratis für alle. Falls du diese Ausgabe nachbestellen möchtest, schau doch mal in unseren Shop. Alternativ findest du die Ausgabe auch als ePaper zum bequemen Lesen auf deinem Smartphone, PC oder Tablet.

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