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Niederlande: Die Rückkehr der Straßendealer
Lange Zeit spielten sie in Hollands Straßenbild fast keine Rolle mehr. Jetzt sind sie wieder da. In zahlreichen Städten unseres Nachbarlandes bereitet die steigende Anzahl von Straßendealern große Probleme. Doch nicht alle betroffenen Kommunen ziehen die notwendigen Konsequenzen ...
Amsterdam, De Wallen, gegen 10 Uhr morgens
Es verspricht, ein schöner Tag zu werden. Ich sitze gemütlich mit einem Becher Kaffee an der Gracht neben der Oude Kerk und genieße den Morgen. Langsam füllt sich die Szenerie mit Leuten, die frühstücken oder einen ersten Joint rauchen. Idylle pur - scheinbar.
Denn zur selben Zeit cruisen ein paar zwielichtige Gestalten auf ihren Fahrrädern um den Oudezijds Voorburgwal. Im Schritttempo fahrend, halten sie Ausschau nach arglosen Opfern, denen sie überteuerte oder einfach nur gefakte Waren andrehen können. Ihre Zielgruppe sind Amsterdam-Erstbesucher: Junge Leute, die vom Drogengeschäft in der Metropole nur wenig Ahnung haben, oder Freaks, die offenkundig härtere Sachen kaufen möchten. Gezielt steuern die Straßendealer diejenigen auf der Straße an, von denen sie sich lohnende Gewinne versprechen. Auch ich werde im Abstand weniger Minuten gleich mehrfach von zwei Nordafrikanern in mittlerem Alter angesprochen. Zuerst freundlich, jedoch wird der Ton nach meiner Ablehnung merklich rauer. Ob ich Rassist sei, will einer der dubiosen Dienstleister wissen. Ich ignoriere die Unverschämtheit, beschließe aber dennoch, mir ein anderes Plätzchen zu suchen, wo ich unbelästigt sitzen kann.
Ortswechsel: In den drei Südprovinzen Limburg, Noord-Brabant und Zeeburg galt seit der Einführung des sogenannten "I-Kriteriums" im Jahr 2013 ein Coffeeshop-Verbot für Ausländer. Dieses besagt, dass Coffeeshop-Besucher erstens Niederländer und zweitens als Konsumenten registriert sein müssen, um in den legalen Genuss von leckeren Harzen und Blüten zu gelangen. Später wurde das Kriterium auch auf andere Provinzen ausgeweitet. Ausgeheckt von Ex-Innenminister Ivo Opstelten, der übrigens nach einer Falschaussage im Zusammenhang mit einem früheren Dealer-Prozess selbst zurücktreten musste, war das I-Kriterium der staatliche Versuch, das Cannabisgeschäft langsam auszutrocknen. Das vorgeschobene Argument lautete: Vor allem (deutsche) Ausländer fallen an Wochenenden massenhaft in grenznahen Städten der Niederlande ein, bekiffen sich sinnlos und verursachen den dortigen Anwohnern Scherereien. Dem wollte die Regierung von Den Haag einen Riegel vorschieben. Dabei oblag es dem jeweiligen Stadtrat, eine Entscheidung für oder gegen die Umsetzung des "I-Kriteriums" zu treffen. Das hatte zur Folge, dass es bis heute keine einheitliche Regelung in Sachen Coffeeshop-Zugangsbeschränkung gibt. Bereits damals warnten Skeptiker, dass in den Kommunen mit entsprechend restriktiver Regelung eine Übernahme der bislang verlässlich geregelten Hanfszene durch kriminelle Straßendealer zu erwarten sei. Sie befürchteten eine Steigerung der mit dem Straßengeschäft einhergehenden Gewalt- und Eigentumskriminalität, wie man sie aus zahlreichen Großstädten der Welt kennt - vergeblich. Es brauchte erst deutliche Belege für eine Verschlechterung der Situation in den Kommunen der Niederlande, um den eigenen Irrweg zu erkennen und ein Umdenken in den jeweiligen Gemeinden einzuleiten.
Absurdistan lässt grüßen
Das ganze Ausmaß des bislang herrschenden Unfugs, in Sachen "Wietpas" bzw. "I-Kriterium", wurde deutlich, als unlängst der Eindhovener Bürgermeister Rob van Gijzel bei seinen Kollegen anfragte, welche der ursprünglich am "I-Kriterium" teilnehmenden Gemeinden in der Grenzregion zu Deutschland das Projekt tatsächlich noch umsetze. Wie sich herausstellte, kontrollierten elf grenznahe Kommunen der Provinz Limburg den Zugang von Ausländern zu den Coffeeshops gar nicht mehr. Dies hing maßgeblich mit der teils massiv angestiegenen Straßendealerei und den damit einhergehenden negativen Nebeneffekten zusammen, die den besorgten Anwohnern der betroffenen Gegenden das Leben zunehmend erschwerten. "Lieber ein Auge zudrücken, als auf unsinnigen staatlichen Regelungen bestehen", lautete offenbar die Devise. Und weil die Situation im Land so unübersichtlich wie uneinheitlich ist, beschloss die Eindhovener Stadtverwaltung im vergangenen Jahr folgerichtig, die "I-Kriterium-Regelung" wieder außer Kraft zu setzen - zunächst für sechs Monate, was zwischenzeitlich stillschweigend verlängert wurde. Dessen ungeachtet hat die derzeitige niederländische Regierung ihre Pläne, das "I-Kriterium" als Gesetz landesweit zu implementieren, noch nicht ganz aufgegeben, gegen den größer werdenden Widerstand aus zahlreichen Gemeinden. Auch in Maastricht bedarf es offenbar noch weiterer Lehrstunden in Sachen Straßenkriminalität, bevor die seit 2015 amtierende Bürgermeisterin Annemarie Penn-Te Strake, ihren - in der Sache ganz vernünftig klingenden - Vorstellungen die entsprechenden Taten folgen lässt. Einstweilen bleibt das "I-Kriterium" freilich in Maastricht weiter in Kraft - aus Mangel an sinnvollen Alternativen, wie es heißt.
Sonderfall Amsterdam
Zurück in Europas Cannabishauptstadt Amsterdam. Hier gilt seit dem Jahr 2013 das sogenannte "Projekt 1012". Damit ist die Postleitzahl des berüchtigten Amsterdamer Rotlichtviertels gemeint, wo sich bis ins Jahr 2015 die meisten Coffeeshops der Stadt befanden. Eigentlich sollte auch in Amsterdam der restriktive Wietpas eingeführt werden. Dies jedoch hätte zu enormen Image- und Einnahmen-Einbußen der Metropole geführt. Immerhin besuchen gut 30 Prozent der Amsterdam-Touristen während ihres Aufenthalts einen Coffeeshop. Noch mehr spazieren allabendlich durch den "Wallen", wo sich die Mehrzahl der verruchten "Hurenfenster" befindet. Und so gelang dem Amsterdamer Bürgermeister Eberhard van der Laan, mit dem "Projekt 1012" eine Art Kompromiss, der sowohl konservative Cannabiskritiker zufriedenstellen und gleichzeitig den toleranten Charakter der Stadt in Sachen Cannabiskonsum aufrechterhalten sollte. Allerdings sollte es den mit Hanf und Sex verbundenen, mafiösen Geschäftsstrukturen in der Stadt per se an den Kragen gehen, weil sich in den zurückliegenden Jahren eine kaum mehr zu kontrollierende Gemengelage aus Menschen- und Drogenhandel etabliert hatte. In der Folge wurden eine Reihe von Hurenfenstern und Coffeeshops geschlossen und die frei gewordenen Immobilien teilweise sogar von der Stadtverwaltung gekauft, um eine Wiederansiedlung unerwünschter Dienstleister zu unterbinden.
Stattdessen sollten sich, so der Wille der Stadtoberen, junge Künstler mit ihren Ateliers und andere kunstgewerbliche Geschäfte ansiedeln - und damit die Einkaufsqualität im "Wallen" aufgewertet werden. Für ganz Amsterdam gilt nun zwischenzeitlich: Kein Coffeeshop darf näher als 250 Meter neben einer Schule liegen. Kein Coffeeshop darf mehr als 500 Gramm Cannabisvorrat in seinen Räumen besitzen. Kein Kunde darf mehr als fünf Gramm Gras oder Hasch pro Person und Tag erwerben.
Zusätzlich wurde im "Wallen" kräftig aufgeräumt. So befindet sich in der Warmoestraat mittlerweile keiner der ehemals gut fünfzehn Coffeeshops mehr. Insgesamt wurden im Rotlichtviertel bislang rund 190 von 480 Hurenfenstern sowie knapp 30 Coffeeshops geschlossen. Der letzte Rauchtempel, der geschlossen wurde, bevor Bürgermeister van der Laan das Großreinemachen im "Wallen" vorläufig stoppte, war der Coffeeshop "Baba" in der Warmoestraat. Nun will man zunächst abwarten, wie sich die Situation in den Südprovinzen der Niederlande weiterentwickelt. Doch der Druck vonseiten konservativer Politiker auf Amsterdams Bürgermeister, die Schließung von Bordellen und Coffeeshops weiter voranzutreiben, ist enorm.
Die aktuelle Lage in Amsterdam
So stellt sich die aktuelle Lage auf Amsterdams Straßen folgendermaßen dar: Mit ihrem Versuch, eine Art sauberes "Amsterdam 2.0" zu schaffen, hat die Stadtverwaltung im Rahmen des "Projekts 1012" zahlreiche Coffeeshops, Sexshops und Hurenfenster geschlossen - und das längst nicht nur im "Wallen", dem Rotlichtviertel der Stadt. An ihre Stelle sind massenhaft Süßigkeiten- und Waffelläden, überteuerte Pseudo-Designer-Outlets sowie Rad- und Jongliergeschäfte getreten, die offenbar kein Mensch braucht.
Bei meinem letzten Besuch im Juli dieses Jahres besuchte ich die Gegend um die Nieuwe Hoogstraat, wo noch vor vier Jahren ein Potpourri an Coffeeshops, Snackläden und Smartshops für ein belebtes Ambiente sorgte. Nun aber waren von etwa 25 Geschäften nur drei besucht. Im Rest der Läden langweilten sich die Angestellten. Die Straße war, trotz des sonnigen Sommertages, vergleichsweise leer. Stattdessen drückte ein Graffiti an einem leerstehenden Gebäude aus, was mittlerweile viele Anwohner denken: Bitte nicht noch einen weiteren Nutella- und Waffelladen.
Zugleich hat sich die Anzahl der Straßendealer in der gesamten Stadt merklich erhöht. Sie sind überall dort zu finden, wo Touristen sind. Im Rotlichtviertel, im Bereich um die Haarlemmer Straat, am Rembrandt- und Leidseplein. Ein Phänomen, das für gut 20 Jahre verschwunden schien. Die Folge: Bereits im Jahr 2014 sahen sich die Behörden veranlasst, überall in der Stadt Warnhinweis-Schilder aufzustellen, nachdem eine Reihe von Touristen durch den Genuss gepanschter Drogen ernsthaft krank geworden war und drei weitere sogar starben. Ihnen hatte man auf der Straße hochreines Heroin als Kokain angedreht.
Aktuell warnen sowohl die Stadtverwaltung als auch mehrere Coffeeshops auf gedruckten und selbstgemalten Plakaten vor den gefährlichen, manchmal gewalttätigen Straßendealern. Es klingt, wie das stillschweigende Eingeständnis, dass die eigenen hochfliegenden Ambitionen dabei sind, grandios zu scheitern.
Am Abend stehe ich mit meiner Kamera wieder an der Oude Kerk, als sich ein Familienvater mittleren Alters mit seiner Frau nähert. Ob er mich etwas fragen könne, will er wissen. "Klar", antworte ich, "fragen Sie!" – bereit, seinen Wissensdurst zu stillen. Zwei Dinge sind es, die den Mann und seine Frau umtreiben: "Wo sind denn hier die Fenster mit den Frauen?", raunt er verschwörerisch, um dann noch einen draufzusetzen: "Und das Hasch-Museum?"
Fast scheint es, als säßen Amsterdams Stadtplaner einem gewaltigen Irrtum auf. Auf der Suche nach einer Amsterdamer "Identität light" lässt man sich offenbar von Wunschdenken leiten, und weniger von Fakten. Ein Ansatz, der kaum zum Erfolg führen wird, wie schon das "I-Kriterium" in den Südprovinzen. Nur die Straßendealer können sich vermutlich bis auf Weiteres über steigende Umsatzzahlen freuenfreuen. Der Repression sei Dank.
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