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Justiz: Don't shoot the Messenger! Der Fall Assange
175 Jahre Haft. Diese Strafe droht Julian Assange, sollte ihm in den USA tatsächlich der Prozess gemacht werden. Der australische Investigativjournalist, Hacker und Aktivist ist vor allem bekannt als Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks. Dort können unter Geheimhaltung gestellte, anderweitig zensierte oder zurückgehaltene Dokumente anonym veröffentlicht werden. Seit der Gründung 2006 haben auf diese Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Informationen wiederholt weltweit Aufmerksamkeit erregt. Assange erhielt für seine Arbeit bereits diverse Auszeichnungen, Ehrungen und Preise, erfuhr allerdings ebenso heftige Kritik. In den USA steht er unter Anklage, seit Jahren sieht sich Assange der Gefahr einer Auslieferung ausgesetzt.
Kurze Geschichte einer langen Verfolgung
Für alle, die es irgendwie geschafft haben, vom Fall Assange nichts mitzubekommen, fassen wir die Ereignisse noch einmal zusammen. Der Hacker und Journalist Assange und seine Plattform WikiLeaks waren vielen Mächtigen schnell ein Dorn im Auge und so wurde er immer wieder verklagt und abgehört, man versuchte wiederholt, ihn zu zensieren oder festzunehmen. 2010 gelang WikiLeaks der bis dahin größte Coup dieser Art: In einer Kooperation mit der New York Times, dem britischen Guardian sowie dem Spiegel veröffentlichte die Plattform Auszüge aus geheimen US-amerikanischen Militärprotokollen. Die US-Soldatin und Whistleblowerin Chelsea Manning hatte die Dokumente an WikiLeaks weitergegeben. Dem bis 2022 als US-Sonderberichterstatter über Folter tätigen Rechtswissenschaftler und Autor Nils Melzer zufolge belegten die offengelegten Militärprotokolle und Videoaufzeichnungen „mutmaßliche Kriegsverbrechen und Korruption“.
In den USA droht Assange seither eine immense Strafe. Kulminiert beliefe sich die für die in der Anklageschrift aufgeführten Punkte vorgesehene Haftstrafe auf ganze 175 Jahre. Man wirft dem Journalisten unter anderem vor, als geheim eingestuftes Material zu militärischen Einsätzen entwendet, veröffentlicht und dadurch die Leben von Informanten gefährdet zu haben. Die USA hatten umgehend nach der weltweit mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Veröffentlichung Ermittlungen gegen Assange eingeleitet. Kurz darauf kam auch noch ein schwedischer Haftbefehl hinzu – wegen vorgeblicher Sexualdelikte.
In wohl berechtigter Furcht davor, ausgeliefert zu werden, legte Assange die ihm auferlegte elektronische Fußfessel im Juni 2012 ab und floh in die ecuadorianische Botschaft in London. Nachdem ihm Ecuador politisches Asyl gewährt hatte, richtete man sich auf einen längeren Aufenthalt des Whistleblowers ein, dem auch die ecuadorianische Staatsbürgerschaft zugesprochen wurde. Wie lange es tatsächlich werden würde, hatte allerdings niemand geahnt. Jahrelang blieb Assange in der Botschaft. Anfang 2016 nannte die dem UN-Menschenrechtsrat unterstehende Arbeitsgruppe gegen willkürliche Verhaftungen diese Festsetzung illegal und menschenrechtswidrig. Im selben Jahr kamen noch weitere Anschuldigungen aus den USA hinzu: US-Sonderermittler Robert Mueller warf WikiLeaks und Assange vor, beratend für Russland tätig gewesen zu sein, um in US-Präsidentschaftswahlkampf einzugreifen. Die entsprechende Klage wurde letztlich jedoch abgewiesen. Ebenfalls aufgrund mangelnder Beweise eingestellt wurden 2017 dann auch die Ermittlungen zu vorgeblichen Sexualstraftaten. Zu dem Vorwurf der Vergewaltigung äußerte sich UN-Sonderberichterstatter Melzer nach Untersuchung des Falls Assange, dieser sei von der schwedischen Polizei und Staatsanwaltschaft konstruiert worden.
2019 schließlich, nachdem Julian Assange inzwischen sieben Jahre in der Botschaft verbracht hatte, entzog ihm der zwischenzeitlich gewählte neue Präsident Ecuadors Lenin Moreno die ecuadorianische Staatsbürgerschaft und das schützende Asyl. Am selben Tag wurde Assange von der britischen Polizei medienwirksam in Gewahrsam genommen. Offiziell begründet mit einem Verstoß gegen Kautionsauflagen, wurde er zu fünfzig Wochen Haft verurteilt. Eine Stunde nach seiner Verhaftung schalteten sich die USA ein und verlangten die Überstellung Assanges. Sie beriefen sich dabei auf einen bereits 2017 gestellten, aber bis zu diesem Zeitpunkt geheimgehaltenen Auslieferungsantrag. Dieser war dann auch der Grund dafür, dass Assange nicht frei kam, nachdem er die Haftstrafe abgesessen hatte.
Begründet mit der Selbstmordgefahr Assanges lehnte ein britisches Gericht die Auslieferung im Januar 2021 zwar ab, doch die USA ließen natürlich nicht von dem Whistleblower ab. Und so hatte diese Entscheidung letztlich kein Jahr Bestand: Nachdem sofort Berufung eingelegt worden war, wurde diese Entscheidung noch im Dezember 2021 in einem weiteren Urteil aufgehoben. Trotz Kritik von zahlreichen internationalen Menschenrechtsorganisationen und NGOs sowie Aktivisten und einer einstimmigen Forderung der parlamentarischen Versammlung des Europarates zur sofortigen Freilassung und Verhinderung einer Auslieferung, wurde genau diese im Juni 2022 von der britischen Regierung bewilligt. Gegen diese Entscheidung legte Assanges Verteidigung natürlich umgehend Berufung ein. Ein weiteres Jahr verging, bis der oberste britische Gerichtshof, der High Court London, diesen Antrag schließlich ablehnte.
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels befindet sich Julian Assange nach wie vor im britischen Hochsicherheitsgefängnis HMP Belmarsh – bereits seit weit über vier Jahren, nach wie vor ohne Urteil. In dieser Haftanstalt gelten derart harte Haftbedingungen, dass die Einrichtung auch als „britisches Guantánamo Bay“ bezeichnet wird. Nicht nur Melzer ist der Ansicht, dass im Fall Assange elementar gegen Menschenrechte verstoßen wird – international äußern Menschenrechtsorganisationen massive Kritik an der Verfolgung Assanges sowie an den Haftbedingungen. So verschlechterte sich sein Gesundheitszustand innerhalb weniger Wochen so drastisch, dass Melzer, nachdem er Assange gemeinsam mit zwei medizinischen Experten in Belmarsh besucht hatte, von „psychologischer Folter“ der USA und ihrer Verbündeten sprach. Im Juni 2022 ging der britischen Innenministerin Priti Patel ein offener Brief zu, welcher von 300 Ärzten aus 35 Ländern unterzeichnet worden war. Darin kritisierten sie die „grausame und unmenschliche Behandlung“ Assanges und nannten eine Auslieferung fahrlässig und inakzeptabel.
Ein moralischer Offenbarungseid des Westens
Der Fall Assange zeigt deutlicher als kaum ein anderer Vorgang, wie bigott die vorgebliche Verteidigung von Demokratie und Freiheit ist, welche sich der Westen im allgemeinen und die USA im speziellen immer wieder auf die Fahnen schreiben. Assange tat, was Investigativjournalisten tun: Er nutzte ihm zugespielte Informationen, um auf Vergehen innerhalb staatlicher Strukturen hinzuweisen, in diesem Fall die mutmaßlichen Kriegsverbrechen der USA. Die Veröffentlichung geleakter Informationen ist nicht zuletzt auch durch die Wirkmacht der Enthüllungen von WikiLeaks längst zum Teil investigativer journalistischer Arbeit geworden. Ohne Assange hätte die Welt wahrscheinlich nichts davon erfahren, dass Teile der US-Streitkräfte unter dem Deckmantel des „war on terror“ offenbar systematisch gegen Kriegsrecht verstoßen haben: Traurige Berühmtheit erlangte das unter dem Namen „Collateral Murder“ bekannt gewordene Video, welches vom US-Militär zurückgehalten und im Rahmen der Enthüllungen von WikiLeaks veröffentlicht wurde. Diese Aufnahmen dokumentieren die Tötung von zehn Personen im Rahmen von Luftangriffen in Badgad am 12. Juli 2007, darunter zwei Reuters-Journalisten, sowie die offensichtliche Freude der Piloten des Kampfhubschraubers an ihrem Tun.
Anstatt Assanges Entscheidung, die ihm zugespielten Informationen zu veröffentlichen, als eine mutige und couragierte Handlung anzuerkennen, schlug ihm insbesondere aus den USA mitunter unverhohlener Hass entgegen. Nicht nur verschiedene Politikerinnen und Politiker, auch zwei Moderatoren des US-Senders Fox riefen sogar mehr oder weniger direkt dazu auf, Assange hinrichten oder ermorden zu lassen. So mutet die hartnäckige Verfolgung und die Androhung einer lebenslangen Haft an, als seien die USA auf einem unverhältnismäßigen Rachefeldzug gegen den Investigativjournalisten. Doch der Skandal lag nie in der Veröffentlichung, sondern in den mutmaßlichen Kriegsverbrechen, welche von Angehörigen des US-Militärs im Irak und in Afghanistan begangen wurden und erst bekannt wurden, nachdem WikiLeaks die zugespielten Informationen veröffentlichte. Um die bizarre Unverhältnismäßigkeit noch einmal zu verdeutlichen: Der Australier Assange ist kein Staatsbürger der USA, keines der ihm vorgeworfenen „Verbrechen“ wurde auf US-amerikanischem Territorium verübt.
Dass die Empörung der berühmten „westlichen Wertegemeinschaft“ dennoch nicht deutlicher ausfiel und auch nach wie vor politisch wie medial eher das große Schweigen in Bezug auf die unfassbaren Vorgänge in diesem Fall herrscht, macht die Doppelmoral der USA und ihrer europäischen Verbündeten mehr als deutlich. Der ehemalige Direktor des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA, Leon Panetta, gab zwischenzeitlich unumwunden zu, dass das Hauptinteresse der USA im Fall Assange darin bestehe, ein Exempel zu statuieren. Selten wurde so deutlich, wie selektiv die angeblich so fundamental wichtigen Werte des Westens zur Anwendung kommen. Auf einen internationalen Aufschrei wartete man vergeblich. Stattdessen schaut die Welt untätig dabei zu, wie der Journalist vorsätzlich und systematisch verfolgt und bedrängt wurde, wie seine Menschenrechte immer wieder verletzt wurden und wie er aufgrund seiner aktivistischen und publizistischen Tätigkeit zunehmend isoliert und letztlich sogar psychologischer Folter ausgesetzt wurde.
Während diese Zeilen geschrieben werden, wartet Assange noch auf seinen nächsten Gerichtstermin. Für den 20. und 21. Februar wurde vom britischen High Court eine zweitägige Anhörung zu dem von ihm angestrebten Rechtsmittelverfahren anberaumt. Wenn diese Ausgabe des grow!-Magazins erscheint, ist also bereits darüber entschieden worden, ob Assange noch Rechtsmittel offen stehen oder ob sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden muss.
Bereits am 2. Februar rief die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International in einem „Brief gegen das Vergessen“ alle Unterstützer Assanges dazu auf, bis Ende März höflich formulierte Mails und Briefe an den US-amerikanischen Justizminister zu schreiben und diesen darum zu ersuchen, die Anklagen gegen Assange fallen zu lassen, die sich auf die Veröffentlichung von Dokumenten auf WikiLeaks beziehen. Die Bedeutung des Falls macht die Organisation in wenigen Sätzen noch einmal deutlich: „Nach Ansicht von Amnesty International würden Julian Assange in den USA schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, u.a. Haftbedingungen, die Folter oder anderer Misshandlung gleichkommen könnten.“
Amnesty stellt völlig zutreffend noch einmal klar: Assanges Veröffentlichung von Dokumenten auf WikiLeaks darf nicht bestraft werden; ein derartiges Vorgehen ist im investigativen Journalismus üblich. Auslieferung und Anklage Assanges würde ein mehr als deutliches Signal senden und in der Folge wohl andere Journalisten und Journalistinnen davon abhalten, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrzunehmen. Unabhängig vom Ausgang der jüngsten Gerichtstermine für Assange wollen wir uns dem abschließenden Aufruf von Amnesty anschließen: „Bitte setzt euch für Julian Assange ein!“
Anmerkung der Redaktion:
Dieser Artikel stammt aus der grow! Ausgabe 2-2024. Wir veröffentlichen hier aus jeder neuen Ausgabe unseres Print-Magazins vollständige Artikel – erst als Snippets, acht Wochen später als vollständige Texte, gratis für alle. Falls du diese Ausgabe nachbestellen möchtest, schau doch mal in unseren Shop. Alternativ findest du die aktuelle Ausgabe auch als ePaper zum bequemen Herunterladen auf deinen Geräten. Wenn dir unsere Artikel und Berichterstattungen gefallen und du uns supporten möchtest, denk doch mal über ein Abo nach: Unser Heft erscheint sechs mal im Jahr, du kriegst es früher als der Kiosk, zum Super-Preis – und wir versenden sehr diskret!
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